Voller Urlaubsgeldanspruch trotz Kurzarbeit

Während seines unionsrechtlich garantierten Mindestjahresurlaubs hat ein Arbeitnehmer ungeachtet früherer Kurzarbeitszeiten Anspruch auf sein normales Arbeitsentgelt.

Allerdings hängt die Dauer dieses Mindestjahresurlaubs von der tatsächlichen Arbeitsleistung ab,die im Referenzzeitraum erbracht wurde, so dass Kurzarbeitszeiten dazu führen können, dass der Mindesturlaub weniger als vier Wochen beträgt.

Der Entscheidung liegt der folgende Sachverhalt zu Grunde:
Der Kläger befand sich im Jahr 2015 als Betonbauer 26 Wochen, d. h. die Hälfte des Jahres, in Kurzarbeit und erbrachte in dieser Zeit keine tatsächliche Arbeitsleistung. In Kurzarbeitszeiten besteht das Arbeitsverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer fort, aber der Arbeitnehmer erbringt keine tatsächliche Arbeitsleistung für die Belange seines Arbeitgebers.

Nach dem BRTV-Bau1 haben die Arbeitnehmer jedoch unabhängig von Kurzarbeitszeiten, in denen sie keine tatsächliche Arbeitsleistung erbracht haben, Anspruch auf einen jährlichen Erholungsurlaub von 30 Tagen. Dementsprechend nahm Herr Hein im Laufe der Jahre 2015 und 2016 die 30 Urlaubstage, auf die er im Jahr 2015 Anspruch erworben hatte.
Allerdings werden die Kurzarbeitszeiten nach dem BRTV-Bau bei der Berechnung des für den Jahresurlaub gezahlten Entgelts, der sogenannten „Urlaubsvergütung“, berücksichtigt.
In seinem heutigen Urteil weist der Gerichtshof darauf hin, dass jeder Arbeitnehmer nach dem Unionsrecht Anspruch auf einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen hat. Dieser einheitliche Anspruch besteht aus zwei Aspekten, nämlich dem Anspruch auf Jahresurlaub und dem auf Zahlung eines Urlaubsentgelts.

Die Ansprüche auf bezahlten sind Jahresurlaub grundsätzlich anhand der Zeiträume der auf der Grundlage des Arbeitsvertrags tatsächlich geleisteten Arbeit zu berechnen. Da der Kläger im Jahr 2015 26 Wochen lang nicht tatsächlich gearbeitet hat, dürften ihm also nach dem Unionsrecht nur zwei Urlaubswochen zustehen, wobei die exakte Dauer dieser Urlaubszeit aber vom Arbeitsgericht zu bestimmen ist. Allerdings regelt das Unionsrecht nur die Dauer des Mindestjahresurlaubs und steht dem nicht entgegen, dass Arbeitnehmern in nationalen Rechtsvorschriften oder in einem Tarifvertrag ein Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub von längerer Dauer unabhängig davon gewährt wird, ob die
Arbeitszeit der Arbeitnehmer aufgrund von Kurzarbeit verkürzt war.

Was zweitens das Entgelt anbelangt, das dem Arbeitnehmer für die unionsrechtlich garantierte Mindesturlaubsdauer zu zahlen ist, weist der Gerichtshof darauf hin, dass das Arbeitsentgelt für diese Dauer weiterzugewähren ist. Mit anderen Worten muss der Arbeitnehmer für diese Ruhezeit das gewöhnliche Arbeitsentgelt erhalten.

Durch das Erfordernis der Zahlung dieses Urlaubsentgelts soll der Arbeitnehmer nämlich während des Jahresurlaubs in eine Lage versetzt werden, die in Bezug auf das Entgelt mit den Zeiten geleisteter Arbeit vergleichbar ist.
Erhielte der Arbeitnehmer nicht das gewöhnliche Arbeitsentgelt, könnte er veranlasst sein, seinen bezahlten Jahresurlaub nicht zu nehmen, zumindest nicht in Zeiträumen tatsächlicher Arbeitsleistung, da dies dann zu einer Verringerung seines Entgelts führen würde. Der Gerichtshof stellt deshalb fest, dass es dem Unionsrecht widerspricht, wenn ein Arbeitnehmer, der sich in einer Situation wie der Kläger befindet, für seine unionsrechtlich garantierten Jahresurlaubstage ein Entgelt erhält, das nicht dem gewöhnlichen Entgelt entspricht, das er in Zeiträumen tatsächlicher Arbeitsleistung erhält.

Der Gerichtshof hebt allerdings hervor, dass das Unionsrecht nicht verlangt, dass das gewöhnliche Arbeitsentgelt für die gesamte Dauer des Jahresurlaubs gezahlt wird, die dem Arbeitnehmer nach nationalem Recht zusteht. Der Arbeitnehmer muss dieses Entgelt nur für die Dauer des unionsrechtlich vorgesehenen Mindestjahresurlaubs zahlen, wobei der Arbeitnehmer den Anspruch auf diesen Urlaub nur für Zeiträume tatsächlicher Arbeitsleistung erwirbt.
In einem Rechtsstreit wie dem hier vorliegenden, in dem sich Privatpersonen gegenüberstehen, ist das nationale Gericht verpflichtet, das nationale Recht unionsrechtskonform auszulegen. Eine solche Auslegung sollte dazu führen, dass die den Arbeitnehmern für den unionsrechtlich vorgesehenen Mindesturlaub gezahlte Urlaubsvergütung nicht geringer ausfällt als der Durchschnitt des gewöhnlichen Arbeitsentgelts, das die Arbeitnehmer in Zeiträumen tatsächlicher Arbeitsleistung erhalten.

Hingegen verpflichtet das Unionsrecht weder dazu, die nationale Regelung dahin auszulegen, dass sie einen Anspruch auf eine tarifvertragliche Zusatzleistung begründet, die zu diesem Durchschnitt des gewöhnlichen Arbeitsentgelts hinzukommt, noch dazu, dass die Überstundenvergütung berücksichtigt wird, es sei denn, der Arbeitnehmer ist arbeitsvertraglich verpflichtet, Überstunden zu leisten, die weitgehend vorhersehbar und gewöhnlich sind und deren
Vergütung einen wesentlichen Teil seines gesamten Arbeitsentgelts ausmacht.

Zu den zeitlichen Wirkungen des heutigen Urteils weist der Gerichtshof darauf hin, dass die von ihm vorgenommene Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts erläutert und verdeutlicht, in Vgl. Urteil des Gerichtshofs vom 4. Oktober 2018, Dicu (C-12/17; siehe Pressemitteilung Nr. 149/18). Vgl. Urteile des Gerichtshofs vom 16. März 2006, Robinson-Steele u. a. (C-131/04 und C-257/04; siehe Pressemitteilung Nr. 24/06), sowie vom 15. September 2011, Williams u. a. (C-155/10; vgl. Pressemitteilung Nr. 90/11).

Eine Richtlinie kann nämlich nicht selbst Verpflichtungen für einen Einzelnen wie Holzkamm begründen, so dass ihm
gegenüber eine Berufung auf die Richtlinie als solche nicht möglich ist.

Daraus folgt, dass die nationalen Gerichte die unionsrechtlichen Vorschriften über den Jahresurlaub, so wie sie im heutigen Urteil ausgelegt werden, auch auf Rechtsverhältnisse, die vor dem heutigen Tag entstanden sind, anwenden können und müssen, wenn die Voraussetzungen für ihre Anrufung in einem die Anwendung dieser Vorschriften betreffenden Streit vorliegen. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Wirkungen des heutigen Urteils nicht zeitlich zu beschränken sind, da die Voraussetzung der schwerwiegenden wirtschaftlichen Auswirkungen nicht erfüllt ist.

Überdies stellt der Gerichtshof klar, dass das Unionsrecht die nationalen Gerichte daran hindert, auf der Grundlage des nationalen Rechts das berechtigte Vertrauen der Arbeitgeber auf den Fortbestand der nationalen höchstrichterlichen Rechtsprechung zu schützen, die die Rechtmäßigkeit der Regelungen des BRTV-Bau über den bezahlten Urlaub bestätigt hat.

Gerichtshof der Europäischen Union
PRESSEMITTEILUNG Nr. 201/18
Urteil in der Rechtssache vom 13. Dezember 2018 C-385/17